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Die Stadtgräben

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Manchmal tun sich Gräben in der Gesiteshaltung auf: 2-Rad oder 4 -Rad?

Manchmal tun sich Gräben in der Geisteshaltung auf: Zweirad oder Vierrad?

Wer über den Stadt-Land-Graben nachdenkt, kommt zu verschiedenen Schlüssen. Erstens, dass man in der Stadt zwar gerne abschätzig von Landeiern spricht, dass aber in Zürich das Ländliche stehts hinter jeder Hausecke lauert. So sind mehr als zwei Drittel der in der Stadt lebenden Personen von irgendwoher zugezogen. Meistens, man darf es vermuten, vom Land. Ein Spaziergang durchs Niederdorf zeigt etwas anderes: Die Ländlerszene ist in der Stadt quicklebendig (sie wurde teilweise auch in Zürich erfunden). Und kaum hat man die Innenstadt verlassen, etwa bei der ETH Hönggerberg, trifft man auf Bauernhöfe – inklusive eines Milchautomaten. Kurz: Das Ländliche gehört zu Zürich ebenso wie die Grossstadtatmosphäre. Zweitens: In der Stadt existiert eine Vielzahl anderer Gräben, die oftmals schwerer zu überwinden sind als dieser oft und gerne zitierte Stadt-Land-Graben. Die meisten von ihnen verlaufen mitten durch die Stadt. Einige davon konnten wir ausfindig machen.

Der Offroader-Graben
Während die einen ihre chromstahlbefelgten Karossen in der Meylenstein-Waschstrassse in Tiefenbrunnen waschen lassen (und dabei in der zur Anlage gehörigen Bar Lachscracker essen), pumpen die anderen ihr Velo an den von der Stadt aufgestellten Stationen. Deren Schläuche sind oftmals so dicht wie die Strohdächer von Hütten in der Sahelzone. Manchmal begegnen sich die beiden Parteien. Und dann wird geflucht. Seite wechseln verboten! Der Offroader-Graben verläuft irgendwo an der Grenze zum Seefeld.

Der Stadt-Land-Graben
Den Stadt-Land-Graben gibt es auch in Zürich selber, er verläuft mitten durch den Juchhof, an der Grenze zu Schlieren. Auf dem gleichnamigen Fussballplatz kicken etwa Viertligavereine wie der FC Kosova, der FC Mezopotamia, CD Espanol Iberia, Centro Lusitan Zurich oder der FC Stade Marocain. Gleich nebenan, Türe an Türe, lernen junge Bauern ihr Handwerk in der einzigen Bauernschule der Stadt. Dazu gehören auch Kühe, Traktoren und ein Hofladen mit Fleisch vom Hof und Wein vom Hönggerberg. Nirgends ist Zürich zugespitzter.

Der Schlechter-Service-Graben
Während einem die Kellner in den Bars im Kreis 1 den Stuhl zurechtrücken, die Karte offen in die Hand drücken und sich entschuldigen, wenn man ihm das Getränk übers Jackett schüttet, sagt die Bedienung im Lokal im Kreis 4, nachdem man gefühlte 15 Minuten den Augenkontakt mit ihr suchte, bloss: «Ach, da hat sich noch jemand reingeschlichen. Mein Kollege kommt sicher grad.»

Der Gentrifizierungsgraben
Dieser Graben durchschneidet sämtliche Stadtquartiere. Aktuell etwa die Lagerstrasse beim Hauptbahnhof, auf deren einer Seite Leute seit Jahrzehnten mit gehörig Verkehr leben. Auf der anderen Strassenseite dagegen machen es sich Powercouples in den neuen Lofts der Europaallee gemütlich – und geniessen abends durch ihre schalldichten Fenster den Blick auf die Geleise. Natürlich trinken sie dabei ein Glas Bordeaux. Klischee ahoi! Die Lagerstrasse ist zwar nur etwa fünf Meter breit, der gefühlte Graben zwischen den neuen Nachbarn aber ist grösser als 100 Meilen.

Der Röstigraben
Auch der Blick in die Statistik hilft einem nicht, den klassischsten aller Schweizer Gräben in Zürich auszumachen. Rund 6000 Französisch sprechende Menschen stehen in Zürich einer Viertelmillion Deutsch sprechenden gegenüber. Dieser Graben hat etwa den Umfang einer Gesichtsfalte, die beim Lächeln über dieses Missverhältnis entsteht. Hier gibt es Aufholbedarf.

Der Fussballgraben
Einer der bekanntesten und wohl auch am leidenschaftlichsten gepflegten Gräben der Stadt öffnet sich zwischen GC und dem FCZ. Der Verein vom Züriberg und die Arbeiter aus dem Kreis 4. Das ist natürlich Unsinn. Die Clubs haben sich finanztechnisch längst angeglichen und spielen zudem noch im gleichen Leichtathletikstadion. Womit auch der Marsch über die Geleise bloss noch symbolischen Wert hätte – würde man ihn nicht bei jedem Derby lautstark begehen.

Hirschengraben
Der friedvollste Graben der Stadt. In ihm grasten vor 300 Jahren noch Hirsche. Heute hilft er einem unheimlich dabei, zügig vom Central zum Kunsthaus zu gelangen.

Der Gesunder-Schlaf-Graben
Während in den Quartieren oberhalb der Uni um elf Uhr abends Ruhe einkehrt und morgens um halb sieben spätestens die Wecker schellen, geht man in Aussersihl erst um 23 Uhr aus dem Haus und bleibt bis in der Früh auf der Gasse. Somit wird auch die oft beschworene 24-Stunden-Gesellschaft-Schicht nie unterbrochen.

Der Szenegraben
Die einzelnen Szenen sind in Zürich hermetisch abgeriegelt. Die Vertreter der Gothic-Szene im Niederdorf wissen wohl nicht einmal von der Bankerszene im Carlton, jene von der Off-Kunstgalerie nichts vom Ruderclub Wollishofen. Der Partygraben dagegen ist einseitig passierbar. Wer in angesagten Läden wie dem Gonzo oder der Zukunft verkehrt, würde sich nie im Leben in der Mausefalle blicken lassen. Umgekehrt? Kein Problem!

Der Velohelm-Graben
Die ehemaligen Szenemenschen haben Kinder gezeugt und die «gefährlichen Stadtkreise» in Richtung Unterstrass oder Wollishofen verlassen. Entfremdet von jeglichen Modeströmungen und gefangen in einem neuen, durch ihr Elterndasein bedingten Sicherheitsdenken, tragen sie nun knallbunte Velohelme. Dies auch beim Betreten der Bäckerei oder der Migros. Man dürfte ihn übrigens auch Babyanhänger- oder Biogemüse-in-wiederverwertbaren-Tragtaschen-Graben nennen. Aber das sind nur wieder Klischees.

Und welche Gräben kennen Sie? Und seien sie noch so klischiert.


DJ Dummbatz und andere kreative DJ-Namen

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Bevor man sich einen geilen namen zulegt, sollte man auch gut auflegen.

Bevor man sich einen geilen Namen zulegt, sollte man auch gut auflegen.

«Hallo, ich bin DJ und suche noch einen Namen. Ich spiele überwiegend House und Dubstep. Ich habe schon ein paar Namen ausgearbeitet aber vielleicht kennt ihr noch welche? Hier meine Ideen: DJ Nex, DJ Beatkingz, DJ Goonbass. Über Antworten würde ich mich freuen. Ich heisse Dominik falls das hilft».

Die Helferlein auf der Hilfeplattform Yahoo Clever hätten dem Jungspund bestenfalls erklärt, dass ein Pseudonym mit der englischen Übersetzung für einen Dummbatz (Goon) gar nicht und das plurale «Beatkingz» für einen Solo-DJ nur bedingt funktioniert und ihn aufgefordert, sich weiter den Kopf zu zermartern. Sie taten es aber nicht, sondern deckten ihn mit einer Unzahl mieser Vorschläge ein.

Anstatt zu fragen hätte Dominik auch einen der vielen Online-Namengeneratoren benutzen können: Man drückt auf einen Button und kann sich die Kreativität sparen. Einige hätten das tatsächlich gescheiter getan, beispielsweise Aldin Balagic alias The Situation. Hat er aber nicht und nun heisst er wie eines der Dummbrote aus der längst abgesetzten Reality-Show Jersey Shore. Glück hat, wer auf einen lässigen Taufnamen zurückgreifen kann, wie beispielsweise Alex Dallas oder Ricardo Villalobos. Andere verfügen über einen knackigen Spitznamen aus Pausenhofzeiten wie René Baumann alias DJ Bobo.

Wer aber Koze gerufen wird, sollte schon ähnlich viel drauf haben wie Stefan Kozalla, will er nicht jedes Mal debil angegrinst werden, wenn er sich vorstellt. Wer doch lieber auf einen Fantasienamen zurückgreift, sollte erst einmal prüfen, ob sich nicht ein anderer Künstler gleichen Namens bereits die Internetseiten gesichert hat. Als sich der Zürcher Marc Vollenweider das Pseudonym Jason Storm erwählte, hat er ebendies unterlassen und musste nachträglich feststellen, dass sich der Schwulenporno-Darsteller Jason Storm bereits alle Domains unter den Nagel gerissen hatte. Mittlerweile scheint sich der schauspielernde Jason Storm aus dem Geschäft zurückgezogen zu haben und Vollenweider ist insofern entschuldigt, als dass der Gang ins Internet in den 90ern noch kein automatischer war.

Unbedingt zu vermeiden sind DJ-Namen mit einem drolligen Sir oder Mr. oder gar einem DJ vor dem Pseudonym: Wer extra vermerken muss, dass er ein DJ ist, versprüht nicht eben viel Selbstvertrauen. Noch übler ist grober Unfug mit Satzzeichen und Gross- und Kleinschrift wie D.U.N.E. oder beliebte Hip Hop-Spielereien wie DeeJay M-Jay K-City feat. MC Chimed: Club-Booker sind versucht auf andere DJs auszuweichen, wenn sie fürchten, sie werden sich während des Abtippens eines Namens alle Finger brechen. Humorvolle Zeitgenossen wie DJ Pult, DJ Case oder DJ Gage finden ihre Idee nur so lange lustig, bis sie feststellen, dass alle auf irgendwelchen Zuliefererseiten landen, wenn sie nach ihnen googlen.

Aus ähnlichen Gründen sollten auch DJ Tennis, das Duo Ostblockschlampen oder DJ Heinz Ketchup eine Namensänderung ins Auge fassen. Der Turntable-Hoffnung Dominik ist zu empfehlen, sich erst einmal auf einen Stil festzulegen: Dubstep und House unter eine Discokugel zu bringen, erfordert viel Können. Einen Namen ausdenken kann er sich auch noch, wenn er erstmals gebucht wird oder wenn er seine ersten Produktionen online stellt.

Alex FlachAlex Flach ist Kolumnist beim Tages Anzeiger und Club-Promoter. Er arbeitet unter Anderem für die Clubs Supermarket, Hive und Zukunft

Zürich – Berlin retour

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Pony Hü aka Sarah Bischof taucht in Berlin ein bis sie in Zürich wieder Luft holt.

Pony Hü aka Sarah Bischof taucht in Berlin ein – bis sie in Zürich wieder Luft holt.

Berlin ist die grosse Schwester Zürichs – attraktiv, aber etwas dicker, etwas verlebter und etwas verzweifelter – und es besteht eine tiefe Geschwisterliebe zwischen den Städten. So leben viele Berliner in Zürich, und im Verhältnis leben noch mehr Zürcher in Berlin. Vor allem Leute aus den verschiedensten kreativen Berufen fühlen sich beiden Städten verbunden. Zum Beispiel die junge Videobloggerin und Journalistin Sarah Bischof aka Pony Hü. «Berlin ist spontan, die Leute sind begeisterungsfähig. Kreative Projekte entstehen nachts an der Party, werden nachmittags geplant und sind abends umgesetzt. Die Leute sind weniger in sozialen Zwängen eingepfercht», erklärt die 27-Jährige.

Vielen Zürchern schläft das Gesicht ein, wenn sie «Berlin», «kreativ» und «Projekt» in einem Satz hören. Zu viele Grafiker, Schauspielerinnen und Autoren hat man nach Berlin ziehen sehen, ins kreative Mekka der deutschsprachigen Welt, wo es «inspirierender» und «irgendwie freier und so» sei. Ein besserer Nährboden für Kunst und Geist. Reihenweise kamen sie nach zwei Jahren zurück in den wirtschaftlich sicheren Hafen Zürichs. Und genau da liegt nach Sarah Bischof des Pudels Kern: «In Berlin haben die Leute oft kein Geld. Sie müssen ihre Träume oft improvisiert und einfallsreicher umsetzen. So entsteht Kreativität. Nicht umsonst heisst es ‹Not macht erfinderisch›. Enthusiasmus ersetzt Planung», sagt Pony Hü.

Wirtschaftlicher Erfolgsdruck fällt von vornherein weg, da die wenigsten eine wirkliche Chance auf ein von Kunst oder Kultur finanziertes Leben sehen. So machen Berliner ihre Projekte oft aus reinem Selbstzweck. Das kann für Zürcher, deren Ziel es ist, sich auch wirtschaftlich irgendwann im kreativen Segment zu behaupten, frustrierend sein.

Eine grosse Rote Fabrik

Aber es ist nicht nur die Spontanität und der grössere Schmelztiegel an Ideen, die Kreative aus Zürich nach Berlin zieht. Es ist auch die Atmosphäre. Ganze Stadtteile sind überzogen mit vollgesprayten Backsteinbauten voller billigem Wohnraum und Ateliers, die industriellen Charme versprühen. Ein bisschen so, als hätte man die Rote Fabrik geklont, zerschnitten und grosszügig über ganze Strassenzüge verteilt. Es zeigt ein buntes, heruntergekommenes Statement des alten Berlin zwischen Baustellen und den protzigen Neubauten, die sich wie dickes Make-up über das pockennarbige Gesicht der geschichtsträchtigen Stadt ziehen. In diesen pittoresken Nischen treffen Kreativität und Gestaltungsmöglichkeit aufeinander. In den Stadtteilen bilden sich fast schon dörfliche Gemeinschaften, in die man aus Zürcher Sicht ungewohnt schnell hineinwachsen kann. Natürlich gibts in Berlin auch jede Menge Szene und Hipster, aber die Attitüde der Ausgrenzung und der Elite scheint weniger stark.

Man kann auch gut in Berlin leben, solange man noch etwas Geld in Zürich verdient.

Man kann auch gut in Berlin leben, solange man noch etwas Geld in Zürich verdient.

Sarah ist nicht naiv: «So begeisterungsfähig die Leute sind, so oft verpufft die Energie innert Tagen. In Zürich ist man besser organisiert. Man plant auf längere Zeit und immer auch mit einem Auge auf Erfolg. Und man kann sich auf die Leute verlassen.» So organisiert sich die junge Videokünstlerin zwischen Zürich und Berlin. Sie lebt in einer Hausgemeinschaft im Kreis 4, arbeitet als freischaffende Moderatorin, Barkeeperin im Hive und daneben an ihren Filmprojekten. Und alle paar Wochen taucht sie ab in den kreativen Sumpf der Metropole Berlin, um mit neuer Inspiration und Ideen zurück nach Hause zu kommen.

Viele ehrgeizige Berliner machen es umgekehrt. So Andreas Vogel (32), ein in Zürich lebender Berliner Künstler und Architekt: «Ich liebe die Ernsthaftigkeit, die man hier in Zürich auch kleinen Projekten entgegenbringt. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass es hier nur wenige der riesigen Prestigeprojekte gibt.» Mühe hatte er im Umgangston: Während Zürchern von den restlichen Schweizern oft Arroganz nachgesagt wird, findet der Exilberliner Vogel seine Zürcher Kollegen «zurückhaltend bis zur Unverständlichkeit». In Berlin herrsche immer klare Ansage, während er hier die Befindlichkeiten zwischen den Zeilen lesen müsse. Aber das nehme er gerne in Kauf, habe es sich sogar selbst schon angewöhnt.

Vorbild der grossen Schwester

Immerhin lebt Andreas seit knapp zehn Jahren an der Limmat. Was er in Zürich vermisst, sind kreative Initialzündungen. «Die meisten neuen Ideen, die hier umgesetzt werden, hat man bereits zwei Jahre zuvor in Berlin gesehen.» Was im Bereich Technologie in Zürich hervorragend funktioniere, nämlich die Entwicklung von Innovationen, sei im Bereich Kunst und Kultur nicht im selben Masse möglich. Vielleicht zeige sich da wieder der Einfluss der grossen Schwester. Wie immer haben die älteren Geschwister eine Vorbildfunktion. So gilt es in Zürich als massgebend, was in Berlin abgeht, während Berlin eher nach New York und London schielt.

Dass Zürich und Berlin sich so ähnlich und doch so unterschiedlich sind, hat auch einen geschichtlichen Hintergrund. Bereits 1916 befruchteten sich Zürich und Berlin gegenseitig bei der Gründung der Dada-Bewegung im ersten Cabaret Voltaire, die später mit der Dada-Ausstellung in Berlin an die breitere Öffentlichkeit trat. Während sich aber Berlin in der Nachkriegszeit zu einem Bollwerk der westlichen Lebensfreude mitten in der DDR behaupten musste und schliesslich mit der 68er-Bewegung den Nachkriegsmief endgültig abschüttelte, verfiel Zürich in einen kulturellen Winterschlaf, aus dem es mit den Globuskrawallen 1968 kurz aufgerüttelt wurde und dann erst mit den 80er-Unruhen wieder richtig erwachte.

Die jetzige Nähe zueinander haben die beiden Städte aber sicher der Techno-Bewegung der 90er-Jahre zu verdanken. Die beiden Grossanlässe Love-Parade und Street-Parade förderten die Verbindung der Städte, und viele Raver der ersten Stunde fanden ihre Bestimmung in der kreativen Szene und in der Kunst. Es ist bis heute so, dass die Berliner und die Zürcher Clubszene die kreative Arbeit der Städte befruchten.

Trotz der Nähe: Aus einem Berliner wird niemals ein Zürcher. Und aus einem Zürcher niemals ein Berliner. Ein Zürcher wird sich wohl auf eine Affaire mit der grösseren Schwester im Norden einlassen, heiraten aber wird er die adrette kleine Schönheit an der Limmat.

Auch nicht ganz am Thema vorbei: De Roni

Schüleraustausch – zwischen den Quartieren

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Die Neugier auf andere Lebensweisen: Früher waren die Quartiere näher beieinander. Bild: landesmuseum.ch

Die Neugier auf andere Lebensweisen: Früher waren die Quartiere näher beieinander. Bild: landesmuseum.ch

Ab heute lesen Sie bei uns im Stadtblog wöchentlich die Stadtgeschichten von Miklós Gimes. Wir freuen uns, seinen herzlichen und witzigen Geschichten bei uns einen Platz geben zu können. Viel Spass!

Als ich in die Primarschule ging, gab es in den Frühlingsferien ein Ferienlager für die ganze Stadt, in Magliaso im Tessin, vielleicht war es eine Art Vorläufer des Sportlagers in Fiesch, das heute jeweils im Herbst stattfindet, ein ganzer Extrazug, wie der Hogwarts-Express, bringt siebenhundert Kinder aus der Stadt ins Wallis.

Damals in Magliaso spielten wir Tag und Nacht Fussball und entdeckten die Mädchen, aber vor allem realisierten wir, wie verschieden wir waren, selbst wir Primarschüler, je nachdem, aus welcher Gegend der Stadt wir herkamen. Die Jungs aus dem Kreis vier waren cooler gekleidet, sie hatten schon mehr von der Welt gesehen, als wir aus dem behüteten Albisrieden, sie wussten aus eigener Anschauung, was Prostituierte sind und Alkoholiker, ihr Schulweg führte an der Langstrasse vorbei und an Kneipen wie der Räuberhöhli. Und einige Mädchen aus Oerlikon und Schwamendingen trugen hochtoupierte Frisuren und rauchten, wenn die Lehrer nicht hinschauten, die das Lager leiteten.

Aber wir lernten voneinander, übernahmen den Langstrassen-Slang, es bildeten sich Freundschaften. Heute ziehen sich neue kulturelle Grenzlinien durch die Stadt. Die Bourgeois Bohemiens im Seefeld, die Szenis in Wiedikon, die Akademiker im Kreis sechs, die Expats überall in den besseren Wohnlagen, nicht zu reden von den Albanern in Altstetten und dem Zürichberg. Eine urbane Gesetzmässigkeit besagt, dass sich Leute mit ähnlichem kulturellen Hintergrund anziehen, immer wieder bilden sich neue Pole – Gott sei Dank, denn so bleiben Städte lebendig.

Kürzlich waren wir in Hirslanden eingeladen, dem Quartier um den Hegibachplatz, wir hörten uns die Geschichten unserer Freunde an, und als wir durch das Quartier spazierten, betrachtete ich die Menschen, als wären sie Fremde, die ihren Kindern die Farbe Rosarot austreiben und sie zu akademischen Höchstleistungen erziehen. Ein paar Stationen mit dem Elfer, und man ist in einer anderen Welt.

Vielleicht könnte man einen Schüleraustausch organisieren, dachte ich. Vielleicht sollte jede Zürcher Schülerin und jeder Zürcher Schüler die Möglichkeit haben, ein bis zwei Wochen pro Jahr in einem anderen Schulhaus zu verbringen.

Der Austausch wäre freiwillig. Wer zu Hause bleiben will – kein Problem. Aber ich würde gern meinen Kindern zuhören, wenn sie von ihren Erfahrungen in Schwamendingen erzählen oder im Villenquartier von Fluntern. Ich meine es ernst – wenn die Studenten auf ihr europäisches Austauschprogramm verzichten müssen, sollen die Kinder wenigstens ein innerstädtisches erhalten.

Vielleicht ist die Neugier nach dem Leben der anderen eine Marotte von mir, ich war eben nie ein Lokalpatriot, dachte nie, wo ich wohne, ist es am schönsten, wäre nie am liebsten im angestammten Quartier geblieben. Wer weiss, vielleicht gibt es noch andere, die denken wie ich, denen sei meine Idee empfohlen, keine Angst, es wird eh nix, wir haben andere Sorgen. Es soll den Kindern nicht besser gehen als den Studenten.

miklos.gimes@tages-anzeiger.ch

«Grafik 14»: Besser als erwartet

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Es gbt wirklich innovatives zu entdecken. Ein Besuch lohnt sich.

Es gibt wirklich Innovatives zu entdecken. Ein Besuch lohnt sich.

Ich muss zugeben, nach meinem Besuch an der «Photo 14» vor ein paar Wochen ging ich mit gemischten Gefühlen und wenig Erwartungen an die Schweizer Werkschau «Grafik 14». Die Anlässe «Irgendwas 14» in der Maaghalle haben für mich den Ruf von «Masse statt Klasse». Und wer schon einige meiner Beiträge gelesen hat, weiss, dass ich Vernissagen und anderen sogenannten VIP-Anlässen immer etwas kritisch gegenüberstehe.

Nun, die Eröffnung der «Grafik 14» am Donnerstagabend war eine Überraschung für mich. Den einzelnen Künstlern, Grafikern und Designern wurde genug Platz eingeräumt, und die Auswahl, die Kurator Harun Dogan traf, zeugte von Offenheit und Vielseitigkeit.

Natürlich brachten viele der Künstler bereits Gesehenes. Aber das kann man nicht Harun Dogan ankreiden, sondern dafür muss die Szene geradestehen. An der Wiederverwertung aller bereits gemachten Stile und Ideen – Kopien, ungeschickt als «Hommage» getarnt – kränkelt die ganze Kreativindustrie. Verwurstete 20er-, 30er-, 40er-, 50er-, 60er-, 70er-, 80er- und neu auch 90er-Jahre-Arbeiten prägten sicher die Hälfte der Exponate. Zum Teil handwerklich sehr gut umgesetzt, aber einfach nicht wirklich innovativ.

Dafür war die andere Hälfte umso eindrücklicher. Ich entdeckte wirklich nie zuvor Gesehenes, witzige Ideen, deren Beschreibung ich hier nicht vorwegnehmen will. Und man hatte zwischen all den anwesenden C-Promis und Vollzeit-Hipstern auch wirklich genug Platz, um die Arbeiten anzusehen. Und das war teilweise wirklich ein Genuss. Viele der jungen und nicht mehr so jungen Kreativen brachten Sachen, die zum Beispiel die gehypte Ausstellung des Ehrengastes Brandon Boyd weit in den Schatten stellten.

Bei mir hätte Boyd kein Kunststypendium bekommen: unbedarft und kitschig.

Bei mir hätte Boyd kein Kunststipendium bekommen: unbedarft und kitschig.

Ich fragte mich sowieso, wieso Michel Pernet von der Agentur Blofeld, die den Anlass durchführt, den alternden Incubus-Leadsänger und Freizeitkünstler Boyd eingeladen hatte. Boyds Schwester meinte, sie seien gekommen, weil dieser Anlass sich nicht mit dem grossen Namen ihres Bruders schmücken wolle, sondern weils wirklich um die Kunst ginge. Nun, ehrlich gesagt dachte ich genau das Gegenteil. Boyds Arbeiten überzeugten nicht mehr als die romantische Zeichenmappe einer 16-jährigen Anwärterin einer mittelmässigen Kunstschule: gefällig, aber schludrig und etwas kitschig.

Nun, ich wurde von vielen anderen Ausstellenden entschädigt. Die Gamedesigner beim Eingang eroberten mein Herz im Sturm. Überhaupt fanden sich im virtuellen Bereich wirkliche Schmuckstücke. Aber auch bei den Cartoon- und Comic-Künstlern sah ich einige erfrischende Sachen. Und nein, ich werde keine Namen nennen, Sie müssen sich die Sachen schon selbst anschauen gehen, es lohnt sich.

Ach ja, im Laufe des Abends fragte ich mich, wo sich wohl die «Kunst 14» im Herbst von der jetzigen «Grafik 14» abgrenzen wird. Früher, in meiner Zeit an der Kunsti, wars einfach: Wir Künstler betrachteten Designer und Grafiker als Lohnknechte der Konsumindustrie, während sie uns umgekehrt als egomane, selbstgerechte Träumer wahrnahmen. Klare Grenzen.

Nun, ich lass mich überraschen. Die «Architektur 14» kommt ja auch noch. Und da die meisten Künstler, die ich kenne, auch gleich noch Grafiker und Designer sind, und die meisten Architekten nebenbei noch Künstler, werden wir wohl das eine oder andere Gesicht im Herbst wiedersehen.

Hier gehts zur «Grafik 14»-Homepage

Das Club-Grossmaul

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Einer der alten Schule: Entertainer und Grossmaul des Zürcher Nachtlebens.

Einer der alten Schule: Entertainer und Grossmaul des Zürcher Nachtlebens.

«Gestern im Flamingo… man muss nicht immer ankündigen wer so alles vorbei kommt. Danke Drake!»

Diese Worte postete der Club Flamingo-Betreiber Maurice «Momo» Mobetie zusammen mit einem Foto des Blackmusic-Superstars Aubrey Drake Graham alias Drake, das ihn, mit einer brünetten Schönheit turtelnd, auf einer Party zeigt. Das Foto ist zwei Jahre alt, wurde keineswegs im Flamingo aufgenommen und Drake stand am betreffenden Abend ein paar tausend Kilometer von Zürich entfernt auf einer Konzertbühne. Der Clubchef verfügte immer schon über ein fulminantes Mundwerk und war schon oft Quell grossartiger Räuberpistolen, mit denen er sich und sein Flamingo geschickt im Gespräch hält.

Mit seinem Drake-Post hat er gar den neuen Trend «Momoing» kreiert, denn bereits am nächsten Tag posteten einige Facebook-User x-beliebige Fotos von Stars wie Jay-Z, Kanye West und Pharrell Williams mit Kommentaren wie «Bin gerade mit einem Kumpel am brunchen». Legendär auch die Story mit seiner eigenen Reality TV-Show namens Swizz Boys on Tour, die sich um sein schillerndes Luxusleben dreht. Shaunie O’Neal, die Ex-Frau des Basketballers Shaquille O’Neal, hätte sich gar die Rechte an der Show gesichert. Nach dieser Sensationsmeldung kam jedoch nichts mehr und der letzte themenbezogene Eintrag auf der Facebookseite von Swizz Boys on Tour hat kürzlich seinen ersten Geburtstag gefeiert.

Wenn jemand versucht sein Flamingo zu diskreditieren, dann kennt der extrovertierte Momo, gemäss eigenen Aussagen ein enger Freund von Justin Timberlake, 50Cent und Akon, kein Pardon. Sein Club ist der beste überhaupt und wer das anzweifelt, der sollte schon über die Reflexe eines Igels verfügen, um seinen auf Facebook abgefeuerten Schmähsalven ausweichen zu können. Subtilität ist gemeinhin nicht so Momos Ding. Vor seinem Flamingo wurde eine Clubberin mit der Begründung abgewiesen sie sei zu klein und als der Club an den vergangenen Swiss Nightlife Awards nicht mal nominiert wurde, quittierte Momo dies mit den Worten «Ich scheiss auf irgendwelche Awards von irgendwelchen Mongos die nicht mal in Clubs reinkommen wo ich hingehe. We bigger than your fucking Carlsberg Awards!».

Nun kann man von Momo halten was man will, man kann sich über seine, bisweilen an Baron Münchhausen erinnernden, Anekdoten aufregen und darf sogar das Flamingo doof finden. Jedoch ist das Zürcher Nachtleben mit zunehmender Professionalisierung auch immer humorloser geworden. Clubs werden teilweise geführt wie Versicherungsagenturen, DJs gehen ihrem Handwerk mit sakraler Ernsthaftigkeit nach und in einigen Clubs muss man gar mit abschätzigen Blicken rechnen, wenn man zu laut lacht. Mobetie kann man Vieles vorwerfen, aber nicht, dass er sich selbst zu ernst nimmt. Er verkörpert eine aussterbende Nachtleben-Gattung und zwar jene des Showman mit grosser Klappe, der den ganzen Zirkus mit Humor sieht und der ihn mit reichlich Hochglanz füttert, selbst wenn es bisweilen nur Katzengold ist, das da glänzt. Dem Zürcher Nachtleben würden ein paar Momos mehr unheimlich gut tun.

Alex FlachAlex Flach ist Kolumnist beim Tages Anzeiger und Club-Promoter. Er arbeitet unter Anderem für die Clubs Supermarket, Hive und Zukunft

Zürich im Hormon-Rausch

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Es ist kaum Auszuhalten: Sonnentage in Zürich

Es ist kaum auszuhalten: Sonnentage in Zürich

Die ersten fünf aufeinanderfolgenden sonnigen Tage haben die Stadt aufgewärmt – mit Besorgnis erregenden Folgen. Die Biochemie der Zürcher spielt verrückt. Hormone fluten Männer wie Frauen. Das macht das Zusammenleben in dieser sonst so coolen Stadt kompliziert. Da wir vom Stadtblog uns für den Geschlechterfrieden in der Stadt verantwortlich fühlen, haben wir einige Tipps zusammengestellt, mit denen Sie durch den Alltag kommen sollten, bis sich ihr Körper und ihre Psyche an die Sonne gewöhnt hat.

Für Männer

1. Vermeiden Sie das Glotzen auf nackte Beine, freie Bäuche und tiefe Ausschnitte. Klar, es ist schwer, wenn das andere Geschlecht sich nach einem Winter in tragbaren Schlafsäcken wieder in Röckchen und Kleidchen zeigt. Aber glauben Sie uns: Glotzen wird in den meisten Fällen nicht als angenehm empfunden (ausser sie sehen aus wie George Clooney oder haben wenigstens gleich viel Geld wie er).

2. Tragen Sie keine Sonnenbrille, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Erstens sehen Sie damit aus wie ein Bub, der Top Gun spielt, und zweitens werden Sie sofort verdächtigt zu glotzen. (Siehe Punkt 1)

3. Machen Sie keine Komplimente an Frauen, die Sie kennen, wenn Sie einen fünfzigminütigen Vortrag über die Bereiche, die ihr weibliches Gegenüber an sich hasst, vermeiden wollen. Und denken Sie dran: Fremde Frauen interessieren sich meist nicht für ihre Meinung  (ausser sie sehen aus wie George Clooney oder haben wenigstens gleich viel Geld wie er).

4. Wenn Frauen ihren Körper der Sonne aussetzen, ist das noch lange keine Aufforerung für Sie, es ihnen gleichzutun. Tragen Sie keine Muscleshirts, reissen Sie nicht beim kleinsten Sonnenstrahl ihr Hemd auf und verzichten Sie bis im Hochsommer auf Shorts oder halblange Hosen. Nein, verzichten Sie IMMER auf halblange Hosen. Kalkweissen Mädchenbeinen kann man unter Umständen noch eine gewisse Ästhetik abgewinnen, käseweissen Männerbeinen niemals.

5. Wenn Sie schwitzen, dann schwitzen sie. Sie dürfen ein Deo benutzen, aber bitte, benutzen Sie einen Roller oder einen Stift. Deosprays wie «Axe» sind nicht dazu angetan, ihre Transpiration dezent zu kaschieren. Diese Sprays wurden von Nordkorea für den Kriegseinsatz entwickelt. Glauben Sie der irreführenden Werbung nicht. Die Frauen fallen zwar in Ihrer Nähe massenhaft in Ohnmacht, aber das hat nichts mit Ihrer Ausstrahlung und alles mit Sauerstoffmangel zu tun.

6. Sollten Ihnen die Hormone schon soweit zu Kopf gestiegen sein, dass Sie darüber nachdenken, eine Unbekannte anzusprechen, vergessen Sie nicht, dass Sie in Zürich sind! Wenn Sie sich nicht zurückhalten können, kehrt innert Sekunden wieder der Winter ein und Sie machen die Erfahrung, dass ein einziger Blick sich anfühlen kann, als würden Sie mit Eiszapfen gepfählt (ausser sie sehen aus wie George Clooney oder haben wenigstens gleich viel Geld wie er).

Für Frauen

1. Seien Sie mitfühlend! Wir wissen, dass Männer bei schönem Wetter Frauen schöner finden. Aber leider beruht das nicht auf Gegenseitigkeit. Frauen finden bei schönem Wetter in erster Linie sich selbst schöner. Was dazu führt, dass Männer glotzen und Frauen nicht. Und nun behaupten Sie bitte nicht, ein wenig Glotzen sei in Ordnung. In Ihrer Fantasie sieht der Glotzer immer aus wie George Clooney und nicht wie der Hausabwart Werner Huber. Also, zeigen Sie Nachsicht.

2. Tragen Sie keine Sonnenbrille. Erstens sehen Sie damit aus wie Biene Maja, und zweitens werden alle vermuten, Sie wollen damit die Falten um die Augen kaschieren. Sie werden mindestens 15 Jahre älter geschätzt. Zudem wirkt es oft arrogant und macht die ganze nette Wirkung des Kleidchens wieder zunichte.

3. Wenn Sie zuhause ein Röckchen anziehen, bedenken Sie die Länge des Kleidungsstücks. Was daheim im Spiegel unglaublich attraktiv aussieht, hat oft die Angewohnheit, ausserhalb der Wohnung zu schrumpfen. Und glauben Sie uns, dauerndes Herunterzupfen des Rocksaums zieht eher mehr Blicke an, als dass es irgendwas zu verdecken hilft. Vermeiden Sie weisse Kleidchen, solange noch meistens Männer für die Wettervorhersage verantwortlich sind. Sie möchten nicht in Weiss in einen Regenguss kommen.

4. Es ist schwer, wenn die Hormone verrückt spielen, die übliche weibliche Zürcher Coolness zu bewahren, trotzdem müssen Sie sich zusammenreissen. Lächeln Sie nicht aus Versehen einen Mann an. In Kombination mit dem eigenen überhöhten Hormonspiegel kann der Schock über so etwas Unerwartetes bei einem Zürcher Mann einen Herzinfarkt oder einen Hirnschlag auslösen. Halten Sie sich zurück und halten Sie im Notfall eine Gratiszeitung vors Gesicht. Apropos Gratiszeitung: Wenn Ihnen wirklich einer gefällt, können Sie am nächsten Tag ein paar Zeilen im Schatzchäschtli von Blick am Abend platzieren: «Du, gross und dunkel, gestern 16 Uhr im 2er-Tram ...». Das ist offen genug.

5. Bedenken Sie, dass fünf Tage Sonne noch keinen Sommer machen. Sie werden nachmittags schulterfrei tragen und abends versuchen, die tagsüber eingefangene Farbe in der Bar zu zeigen. Das führt zu Lungenentzündung. Und setzen Sie sich über Mittag nicht mit ihrem (zu kurzen) Röckchen (siehe Punkt 3) auf kalte Steinmauern. Sollten die Hormone Sie nämlich wirklich überwältigen und Sie sich mit ihrem neuen Schwarm zum horizontalen Frühlingstanz treffen, würde Ihnen eine Blasenentzündung einen Strich durch die Rechnung machen.

6. Vermeiden Sie Frühlingsdiäten! Gemeinsam mit dem erhöhten Hormonspiegel wecken die Stimmungsschwankungen durch den dauernd niedrigen Blutzuckerspiegel abwechselnd das Bedürfnis nach Weinen und Knutschen. Und glauben Sie nicht, dass Sie im Frühling mit drei Kilo weniger einen Vorteil auf dem Zürcher Singlemarkt hätten. Den Vorteil holen Sie lockern mit drei Zentimeter Einsparung am Röckchen wieder herein (aber beachten Sie wiederum Punkt 3).

So, wenn Sie noch weitere Tipps für Ihre Mitstädter haben, dürfen Sie diese gerne in den Kommentaren weitergeben.

Von zwanzig auf hundert

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Preise wie vor 40 Jahren (Symbolbild)

Preise wie vor 40 Jahren (Symbolbild)

Von einem Sportreporter des Tagi habe ich gehört, dass ein Coiffeur in der Hallwylstrasse für zwanzig Franken Haare schneidet, Frauen bezahlen dreissig. Der Kollege wunderte sich, wie der Figaro mit seinen Preisen aus den Achtzigerjahren über die Runden kommt. Bei meinen Stammcoiffeusen bezahle ich meist das Doppelte, obwohl es auf meinem Kopf nicht viel zu tun gibt.

An einem Vormittag im Februar bin ich hingegangen, Bassel und Guys heisst der Laden, er befindet sich neben einem jüdischen Café, auf dem Flachbildschirm liefen die Olympischen Spiele von Sotschi, der Biathlon der Männer. Es war ein netter Laden ohne Firlefanz, Parkett, eine Reihe schwarzer Ledersessel. Bassel, der Coiffeur, plauderte mit einem älteren Kunden, er trug ein hochgeknöpftes, olivgrünes Berufshemd mit seinem Schriftzug, ein gut aussehender Mann zwischen dreissig und vierzig Jahren, mit einem jugendlichen Gesicht und kurz geschnittenen grauen Haaren.

In einer Viertelstunde waren wir durch, es kostete tatsächlich zwanzig Franken. Er habe Kunden, sagte Bassel, die mehr zahlten, dreissig, vierzig Franken, wichtig sei aber nicht der Preis, sondern dass die Kunden zufrieden seien.

Er komme aus Zypern, erzählte Bassel, «Sonne, Meer, wenig Arbeit». Darum habe er sich in Europa umgesehen, seine Familie sei es gewohnt, unterwegs zu sein, Bassels Vater stammt aus dem Libanon. Den Laden an der Hallwylstrasse habe er vor einem guten Jahr von einem Kurden übernommen, schon der habe für zwanzig Franken Haare geschnitten, das Geschäft laufe gut, in den Spitzenzeiten könnte er einen Gehilfen anstellen, wichtig sei, dass die Leute nicht warten müssten.

Was wäre die Schweiz ohne die Bassels, dachte ich, als ich ihn erzählen hörte, ohne unternehmungslustige, junge Berufsleute, die bereit sind, neue Wege zu gehen, viel zu riskieren – die Ersparnisse der Familie aus Zypern und dem Libanon steckten in seinem Laden, sagte Bassel.

Ich fragte ihn, ob er von der Abstimmung gehört habe. Klar, antwortete Bassel, er könne die Schweizer verstehen. Die Zeiten hätten sich geändert, die Krise, sagte er, die Konkurrenz sei härter geworden, die Krise sei gut für die Reichen, aber nicht für die Arbeiter, weil immer jemand bereit sei, für einen niedrigeren Lohn zu arbeiten. Und jetzt, sagte Bassel, hätten sich die Schweizer gesagt, dass es Zeit sei, ihr Land zu beschützen. Es klang einsichtig, wie er so redete, mit der Erfahrung eines Weitgereisten.

Beim Abschied sagte Bassel, er habe Probleme mit dem Rücken, vielleicht müsse er den Laden aufgeben. Als ich kürzlich vorbeischaute, war Bassel bereits am Räumen, Ende Monat höre er auf. Sein Nachfolger sei bereit, die Zwanzig-Franken-Politik weiterzuführen, sagte Bassel. Vielleicht steige er ins Autobusiness ein, aber er habe sich auch schon überlegt, als Störcoiffeur zu arbeiten, da müsse man nicht den ganzen Tag stehen, bei den Kunden zu Hause. «Hundert Franken für einen Haarschnitt», sagte Bassel. «Das sollte funktionieren.»

Jeden Donnerstag lesen Sie hier die Stadtgeschichten von Miklós Gimes, Autor beim «Das Magazin» und freier Mitarbeiter beim «Tages Anzeiger».

miklos.gimes@tages-anzeiger.ch


Mitten ins Gesicht

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Helmi Sigg musste als Versuchskaninchen herhalten.

Helmi Sigg musste als Versuchskaninchen herhalten.

Gestern musste ich wieder mal an eine Vernissage. Diesmal an die Ausstellung der Tortenbilder von Barbara Sigg in der Photobastei und natürlich wieder mit vielen Promis und Weisswein. Und wie immer fühlte ich mich an solchen Anlässen nicht wirklich wohl. Es ist schon erstaunlich: Sobald irgendwer neben einem steht, Helmi Sigg, Vera Dillier oder Melanie Alexander, kommt jemand mit einer Kamera angerannt und macht ein Bildchen. Es ist ja schon praktisch, wenn man seine Selfies für Facebook nicht selbst schiessen muss, aber es ist irgendwie auch irritierend.

Vera Dillier: «Eine Torte kann meiner Würde nichts anhaben».

Vera Dillier: «Eine Torte kann meiner Würde nichts anhaben».

Die Bilder selbst fand ich grandios. Barbara Sigg machte die Bilder während der letzten drei Jahre. Sie überredete Promis und Politiker (Nik Hartmann, Vera Dillier, Melanie Alexander, Andrea Sprecher, Clifford Lilley und andere), sich eine Torte ins Gesicht zu klatschen und danach ablichten zu lassen. Angefangen hatte sie damit für ein Satiremagazin, und als das einging, hat sie einfach weitergemacht. Zu den Bildern gibts nicht viel zu sagen, die sprechen irgendwie für sich selbst.

Auch Nik Hartmann liess sich tortieren.

Auch Nik Hartmann liess sich tortieren. (Klick vergrössert)

Nun ja, ich war zum Glück nicht der Einzige, der sich nicht nur wohl fühlte in seiner Haut. Da war noch das neue alte Fotomodel Peter Graf, der gerade in der Regenbogenpresse herumgereicht wird. Mit ihm, einem richtigen Bauern, der nebenbei noch modelt, hab ich mich über die Vorteile von am Baum reifendem Steinobst gegenüber frühgeerntetem in den Läden unterhalten. Und das war wirklich um Welten spannender als der übliche Szene- und Schickimicki-Tratsch. Aber wie immer hatte ich nach 45 Minuten genug und blieb dann noch 15 Minuten aus Anstand. Ich mag keine Vernissagen, wie gesagt, nicht mal, wenn ich selbst an der Ausstellung beteiligt bin.

Normalerweise beneide ich ja unseren Nachtleben-Kolumnisten Alex Flach, weil er immer seine Interessenbindungen angeben muss, wenn er über Clubs und Partyveranstalter schreibt. Das wirkt irgendwie so wichtig und beeindruckend. Nur ich habe nie irgendwelche Interessenbindungen, offensichtlich bin ich einfach nicht interessant genug.

Bei der Tortenklatsch-Austellung darf ich endlich auch mal: Ich war dabei, als die Bilder entstanden. Ich hab die Torte gehalten. Und ich war der Herausgeber des Satiremagazins, das ich inzwischen in den Konkurs getrieben hab. Jänu. Leider verdiene ich nichts an diesem Bildern oder an der Ausstellung, so dass die Interessenbindung keine wirkliche Bindung ist. Eher so eine Art Interessensaffäre. Ein Interessensflirt vielleicht? Egal.

Schlagrahm und Stil auf Bildern: Die Tortenausstellung. (Bild: Olivia Zeier)

Schlagrahm und Stil auf Bildern: Die Tortenausstellung. (Bild: Olivia Zeier)

Neues aus der Club-Gerüchteküche

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Wer kaufts Kaufleuten?

Wer kaufts Kaufleuten?

Das leidige Tauziehen um die Zukunft des Kaufleutens, mit den Seniorpartnern Fredi Müller, Bruno Emele und Hanswalter Huggler am einen Ende des Seils und den Juniorpartnern Marc Brechtbühl, Patrick Gertschen und Mark Röthlin am anderen, hat nicht nur in den Medien hohe Wellen geschlagen, sondern natürlich auch im Nachtleben.

Ein Ungemach kommt selten allein und auch dieses hier hat gleich mehrere Begleiter im Schlepptau, denn aktuell schwirren mehr Gerüchte durchs Nachtleben als Fruchtfliegen durch eine unordentliche Küche an einem heissen Augusttag. Beispielsweise soll der Station Club beim Bahnhof Enge nur noch bis Ende März (oder spätestens April) geöffnet sein und sich auf Anfang April aus der Zürcher Clublandschaft verabschieden. Einige denken, die Betreiber des – auf ein kosovarisches Publikum ausgerichteten – Rümlanger Clubs Rinora 4 hätten die Räumlichkeiten übernommen. Nicht zuletzt wegen der leidigen Geschichte des auf Serben ausgerichteten Clubs Jil in Oerlikon, der vor ein paar Monaten von sich reden gemacht hat, weil dessen Geschäftsleitung sich weigerte, Kosovaren Zutritt zu gewähren.

Die Rinora 4-Macher hätten vor, an der jetzigen Station-Adresse mit einem Kosovaren-Club in die Bresche zu springen. Andere wiederum lassen verlauten, die Macher des Clubs Supermarket um Jean-Pierre Grätzer, die in Bälde ihren angestammten Platz an der Geroldstrasse verlassen werden, würden da was Neues eröffnen. Auch der, ebenfalls zur Fortuna Holding zählende, Club Amber werde im Sommer seine Pforten schliessen. Ebenso hätte das sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Amber befindliche Restaurant Movie die Kündigung erhalten, sich jedoch vor Gericht das vorläufige Bleiberecht erstritten. Dem Gemunkel zufolge soll das Amber jedoch nicht verschwinden, sondern in das derzeit von Candrian Catering als Restaurant betriebene Vis-a-Vis an der Talstrasse umziehen, wobei die Fortuna Holding-Exponenten, gemäss anderer Quellen, gar keine Lust hätten, ein neues Amber zu eröffnen.

Ein weiteres Gerücht betrifft das Indochine: Die Familie Haussener, die den Club seit rund einem Dutzend Jahren betreibt, soll sich in Gesprächen mit Übernahme-Interessenten befinden. Dass der Club einiges vom Glanz vergangener Tage eingebüsst hat, ist kein Geheimnis. Jedoch ist ein Ausbleiben des Hypes das Schicksal eines jeden Clubs, der in die Jahre kommt. Einzelne Szene-Angehörige behaupten nun gar steif und fest, der Indochine-Verkauf sei bereits unter Dach und Fach. Auch die Gerüchte um den Gratis-Club Wow (ehemals Club Q) reissen nicht ab: Das Buschtelefon lässt verlauten, dass die finanziellen Bedingungen für eine Übernahme durch die neuen Betreiber nicht erfüllt worden seien und dass sich das Wow demnächst wieder aus dem Zürcher Nachtleben verabschiede.

Zu guter Letzt und um den Kreis zu schliessen: Mark Röthlin, einer der Juniorpartner des Kaufleutens, hätte an diesem Wochenende seinen neuen Gastrobetrieb an der Brandschenkestrasse 105 in Betrieb nehmen sollen. Hat er aber nicht. Irgendwas mit «Abnahme», «Ämter» und «nicht geklappt».

Alex FlachAlex Flach ist Kolumnist beim Tages Anzeiger und Club-Promoter. Er arbeitet unter Anderem für die Clubs Supermarket, Hive und Zukunft

«Willkommen, Schwesterchen!»

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Das neue Schwesterchen: das NZZ-Stadtblog.

Das neue Schwesterchen: das NZZ-Stadtblog.

Die Familie der Stadtzürcher Online-Magazine hat Zuwachs bekommen: Neben den Opas zueri.net (seit 11 Jahren), Ronorp (feiert dieses Jahr das 10-Jährige) und uns Halbwüchsigen (Stadtblog gibts in dieser Form seit zwei Jahren) hat nun auch die alte Tante NZZ Stadtzürcher Nachwuchs hervorgebracht.

«Hallo Zürich – Frequenzen der Stadt» heisst das neue Gefäss und wird von vier Bloggerinnen betreut. Nina Fargahi, Politologin und Newsproduzentin, hat bereits mit ihrem früheren NZZ-Migrationsblog Erfahrungen als Bloggerin gesammelt. Unterstützt wird sie von Katja Baigger, der Leiterin der Panoramarredaktion, Martina Läubli aus der Nachrichtenredaktion (sie war früher mal bei Tagi Online) und Paula Scheidt, ebenfalls aus der Nachrichtenredaktion.

Bis jetzt haben die vier Frauen gute Arbeit geleistet. Mit feinen Einblicken in ihre persönliche Stadt  Zürich lockern sie wöchentlich den grauen Politalltag der seriösen Zürcher Medien auf. Wir freuen uns über das neue Gefäss, hoffen auf gegenseitige Inspiration und werden, wie es sich für ältere Brüder gehört, die ersten Schritte des Schwesterchens aus dem Hause der Konkurrenz wohlwollend im Auge behalten.

Schön wäre es, einmal eine gemeinsame Geschichte zu machen, da uns Stadtbloggern oft der weibliche Zugang zu Themen fehlt – und die vier NZZ-Stadtbloggerinnen vielleicht auch mal über einen Hauch Testosteron nicht unglücklich wären. Wir werden sehen.

In diesem Sinne: «Willkommen, Schwesterchen!»

PS: Wo die NZZ  korrekt deutsch «das Blog» (von «das Weblogbuch») schreibt, behalten wir unseren helvetischen Ansatz und sind natürlich «Der Stadtblog».

«Holzschue!» – «Schafseckel!»

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In der Hektik des Stadtverkehrs Zeit für kreative Beschimpfungen: Velofahrer.

In der Hektik des Stadtverkehrs Zeit für kreative Beschimpfungen: Velofahrer.

Es gibt Tage, Wochen, da geschieht nichts, was die Öffentlichkeit interessieren könnte. Klar, man hört Geschichten, X ist gestorben, Y hat eine Affäre, Berlin wird überschätzt.

Das Wetter war sorglos, paradiesisch, als ich an einem Morgen über den Fussgängerstreifen ging, auf dem See zogen die Ruderer ihren Strich im Wasser, die Autos, unterwegs zur Arbeit, liessen mich passieren, ein Radfahrer brauste auf dem Velostreifen heran, soll ich jetzt über den Streifen rennen?, dachte ich, nein, der Tag ist zu schön, ich spaziere.

Auf dem Rad sass ein Typ um die fünfzig, wie soll ich sagen, ein Alternativer, aber mit Geld, alles hatte Qualität, sein Rennrad, der schwarze Sweater, der silberne Velohelm, der kleine Rucksack. Er musste bremsen, fiel aus seinem Rhythmus, und wie er sich auf seinem Rad aufrichtete, sah ich: Er verträgt keinen Spass. «Holzschue», sagte er, als er hinter mir vorbeizog, ich schaute ihm nach, wie er wieder Fahrt aufnahm, «Schafseckel», rief ich ihm nach.

Holzschue, wahrscheinlich hat er recht, aber was meinte er damit? Ich sei ein Idiot? Schwerfällig? Nicht zeitgemäss?

Im Verkehr habe ich eine pragmatische Haltung. Das einzige Ziel ist, möglichst reibungslos aneinander vorbeizukommen, je eleganter, desto besser. Belehrungen sind meist langweilig und primitiv. Es ist erstaunlich, wie selbstregulierend die Meute der Autofahrer sein kann, wenn sich alle dem Ziel unterordnen, dass es fliesst, selbst im Chaos von Palermo oder im endlosen, nie abreissenden Strom von Los Angeles. Jeder schaut nur für sich, und weil das alle so machen, kommt man vorwärts.

Die Strasse ist kein Ort der Selbstverwirklichung, sie hat keine andere Aufgabe, als A mit B zu verbinden; Städten und Gegenden, die das begriffen haben, kann man eine zivilisatorische Leistung attestieren. Ich habe das zum ersten Mal vor vielen Jahren realisiert, als ich in Schweden war, wo man stundenlang über Land fahren kann, ohne eine menschliche Behausung zu sehen, trotzdem ist die Geschwindigkeit streng limitiert. In einer fortgeschrittenen Zivilisation ist die Strasse, wie gesagt, eine funktionale Angelegenheit, ein Ort der Vernunft.

Eine Erkenntnis, die für Velofahrer in der Stadt nicht gilt. Auch für mich nicht, übrigens. Auch ich fahre über Trottoirs, springe vom Randstein direkt auf die Fahrbahn, kurve um Fussgänger, gefährde Kinderwagen. Das hat sicher historische Gründe, weil sich das Velo seinen Platz auf den Zürcher Strassen erkämpfen musste und weil es einen gesellschaftlichen Bonus geniesst dank seiner Umweltfreundlichkeit.

Wer sich auf ein Rad setzt, meint immer noch, eine Art Revolutionär zu sein. Und wie es in revolutionären Gesellschaften üblich ist, herrscht da oft ein anarchischer Geist, seltsamerweise gepaart mit einem bornierten Dogmatismus, einer unmenschlichen Rechthaberei, es reicht, die Geschichte der Sowjetunion zu studieren. Da ist so ein «Holzschue» eher harmlos. Aber wie gesagt, es gibt Tage, Wochen, da nicht viel geschieht.

MiklosMiklós Gimes ist Reporter beim «Magazin», Kolumnist beim «Tages-Anzeiger» und Filmemacher («Bad Boy Kummer»). Jeden Donnerstag lesen Sie seine Stadtgeschichten hier bei uns im Stadtblog und auf der Bellevueseite in der Printausgabe.

Der Zürcher Verkehrskrieg

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Besser, die Aggressionen bahnen sich so einen Weg als über das Gaspedal.

Besser, die Aggressionen bahnen sich so einen Weg, als über das Gaspedal.

Gestern löste Miklós Gimes mit seiner Gedankenschau zum Thema Velofahrer wieder mal einen hitzigen Streit zwischen Zweirad-Fanatikern und Vierrad-Kriegern aus – und natürlich hieben und stachen auch die militanten Fussgänger kräftig mit drauflos. Jedesmal, wenn das Thema Stadtverkehr im Stadtblog auftaucht, sehen wir dasselbe Bild: Die Kommentatoren holen mit dem verbalen Zweihänder aus und machen den Gegner nieder.

«Fahrrad-Anarchisten» oder «Umwelt-Mörder» tönt es da, und jeder ist sich sicher, dass seine Position die moralisch einzig mögliche sei. Ich muss zugeben, dass ich beiden Seiten etwas abgewinnen kann. Es ist wohl eine Art religiöses Thema, bei dem tiefe Glaubenssätze zum Ausdruck kommen. Jeder Velofahrer in der Stadt fühlt sich auch ein bisschen wie die legendären New Yorker-Velokuriere und kümmert sich oft wenig um Regeln, die für Autos Sinn machen. Die Autofahrer hingegen sehen sich in Zürich grundsätzlich als Opfer, weil sie hier, in der Innenstadt, halt vernünftigerweise keine «freie Fahrt für freie Bürger» haben. Die Fussgänger wiederum fürchten grundsätzlich um ihr Leben, wenn sie ein Vehikel mit Rädern nur schon von Weitem sehen.

Es schleicht sich das Gefühl ein, die Zürcher Strassen seien eine Art Todespfuhl, eine Arena der Fortbewegungskrieger, in der täglich Massen von Opfern zu beweinen sind.

Sieht man aber genauer hin, muss man feststellen, dass in Zürich der Innenstadtverkehr eher wie ein choreografierter Tanz  funktioniert. Gestern Abend stellten Freunde aus den USA überrascht fest, dass hier die Autos für Velos und Fussgänger bremsen, ohne auch nur einen Augenblick nachzudenken: «In L. A. wärst du tot, wenn du zu Fuss oder mit dem Fahrrad versuchen würdest, einem Auto den Vortritt zu nehmen. Auf den amerikanischen Strassen gilt das Recht des Stärkeren, darum kaufen sich die Leute auch immer noch diese grossen Trucks».

Ich musste einen Augenblick überlegen, bevor ich es Ihnen erklären konnte: «Hier gilt die Pflicht des Stärkeren. Wer mehr Macht hat, muss auch Verantwortung für die Schwächeren übernehmen. Es ist keine Frage des Rechts. Auch wenn der Schwächere sich nicht an die Verkehrsregeln hält, ist es die Pflicht des Stärkeren, Rücksicht zu nehmen und die kleineren Verkehrsteilnehmer zu schützen. Das ist so tief in den Köpfen, dass die Leute nicht mal mehr darüber nachdenken müssen.»

Natürlich darf man danach den Finger zeigen und aus dem Fenster oder über die Lenkstange fluchen. Das ist Teil des Spiels.  Das baut die Aggression ab und wirkt als Ventil, so dass man beim nächsten Mal wieder einen Vollstopp für den Schwächeren hinlegen kann. Aber grundsätzlich kannst du ohne zu schauen auf die Strasse latschen und jeder wird bremsen. Was nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist. Der Umgang zwischen den Zürcher Verkehrsteilnehmern hat etwas Urschweizerisches: Man bildet eine Gemeinschaft und schaut aufeinander, aber innerhalb dieser Gemeinschaft darf man streiten, bis die Fetzen fliegen.

Ich weiss, jetzt werden mir wieder einige Kommentatoren Schönfärberei vorwerfen. Nun ja, solange ein tragischer Verkehrstoter hier in Zürich noch ein Politikum ist, und nicht etwa wie in Bangkok oder London ein gewohnter Anblick auf dem Weg zur Arbeit, denke ich, wir jammern auf sehr hohem Niveau.

PS: Beim ÖV ist es übrigens ähnlich: Die SBB muss sich mittels einer öffentlichen Entschuldigung Asche aufs Haupt streuen, wenn ihre Züge zwei Tage hintereinander mehr als drei Minuten Verspätung hatten und der Ersatz nicht innerhalb von weiteren drei Minuten bereitstand. Aber das ist ein anderes Thema und wird ein andermal behandelt. Genauso wie der Dichtestress, der offensichtlich die Leute zum Weinen bringt, wenn sie die zehn Minuten zwischen Winterthur und Stadelhofen keinen Sitzplatz finden.

Kein Clubbing mit 16?

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Sechzehn ist ein Alter ohne Grenzen. Ausser an der Clubtür.

Sechzehn ist ein Alter ohne Grenzen. Ausser an der Clubtür.

Sechzehn zu sein ist nicht leicht. Man möchte alles, man möchte es sofort und darf dann doch beinahe nichts. Auf der Strasse zum Glück stehen einem die Eltern, die Lehrer oder der erbärmliche Kontostand im Weg. Nicht wenige 16-Jährige gehen in ihrer Ernüchterung mit George Bernard Shaws berühmtem Satz «youth is wasted on the young» (Die Jugend ist an junge Leute verschwendet) einig, auch wenn Shaw seinen Ausspruch nicht eben aus Mitgefühl für die Nöte der Teenager heraus geäussert hat.

Auch die Nachtleben-Macher zeigen wenig Interesse für die Belange unmündiger Mitmenschen und lassen sie gar nicht erst in ihre Clubs. Dies hat damit zu tun, dass sie an Jugendliche, die das achtzehnte Altersjahr noch nicht erreicht haben, keine Spirituosen verkaufen dürfen. Das Ignorieren des Ausgehbedürfnisses 16-Jähriger liegt aber auch in der Tatsache begründet, dass es dem Renommee eines Clubs schadet, wenn sich die erwachsenen Stammgäste auf der Tanzfläche plötzlich von (je nach Geschlecht) grölenden oder kreischenden 16-Jährigen umzingelt sehen.

Aus diesen Gründen führen die Clubs ein rigoroses Mindestalter-Regiment, im Zuge dessen die Clubber erst ab Erreichen des 18. Altersjahres eingelassen werden. Nun reift jedoch in einigen Nightlife-Exponenten der Gedanke einen Club explizit für 16 bis 18 jährige zu eröffnen. Ursprung dieser Idee ist der Erfolg von ü16-Partys wie beispielsweise den X-Travagant-Events im X-Tra oder von entsprechenden Grossanlässen wie des jährlich stattfindenden KV Fäschts.

Diese Partys generieren im Handumdrehen weit mehr als tausend Besucher und auch wenn man den Anwesenden nur Bier, Wein, Obstwein und Sekt verhökern darf, so lässt sich der bescheidene pro Kopf-Umsatz von 16-Jährigen mittels der enormen Besucherzahlen, welche diese Altersgruppe zu generieren imstande ist, wieder ausgleichen. Masse statt Klasse ist denn auch der Grundsatz einer jeden ü16-Party, denn was den Teenagern an diesen Anlässen serviert wird, ist so weit von Kultur, Gehalt und Niveau entfernt wie es etwas nur sein kann.

Fürchterliche Sets von DJs, die denken Reggaeton sei ein würdiger Clubmusikstil, Gastspiele von Übelkeit erzeugenden Promis wie der deutschen Exhibitionistin Micaela Schäfer und Auftritte von sich auf musikalisch überaus bescheidenem Niveau bewegenden Eintagesfliegen wie Tacabro (Tacata) sind Standard. Man kann unumwunden sagen, dass ü16-Veranstalter ihren Gästen nicht Qualität vermitteln, sondern sie bloss in möglichst grosser Zahl anlocken wollen, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Teenager, die bereits mit 16 einen Musikgeschmack entwickelt haben, der sich nicht mit dem aktuellen «BRAVO Hits»-Sampler deckt, stehen an diesen Partys sowieso auf verlorenem Posten. Es gibt jedoch einen Ausweg aus dieser Clubbing-Zwickmühle: Einen eigenen Partyraum auftreiben, sich beim älteren Bruder das DJ Pult ausborgen, die Nachbarn freundlich vor allfälligen Lärmemissionen warnen und eine eigene Fete schmeissen.

Auf diese Weise schaufelt man auch kein Geld in die Taschen von Veranstaltern, die sich eigentlich gar nicht für die Belange von 16-Jährigen interessieren, nicht zuletzt weil sie dieses aufregende Alter längst hinter sich gelassen haben.

Alex FlachAlex Flach ist Kolumnist beim Tages Anzeiger und Club-Promoter. Er arbeitet unter Anderem für die Clubs Supermarket, Hive und Zukunft.

Drogen, Korruption und ein schwarzer Plot

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Er befasst sich auch in der Freizeit mit Drogen, Korruption und Gewalt.

Er befasst sich auch in der Freizeit mit Drogen, Korruption und Gewalt: Michael Herzig.

Fixerstübli, Waffengewalt und die Strichboxen in Altstetten gehören zum Arbeitsfeld von Michael Herzig. Er war jahrelang Drogenbeauftragter der Stadt Zürich und ist jetzt Vize-Chef der Sozialen Einrichtungen der Stadt. Mit was beschäftigt sich der Kader-Sozialarbeiter in seiner Freizeit? Genau: Mit Drogen, Gewalt und Polizeikorruption – in Buchform. Michael Herzig veröffentlichte diese Woche seinen neuen Züri-Krimi um die hartgesottene Polizistin  Johanna di Napoli. Wir sprachen mit ihm über die dunkle Seite der Limmatstadt.

Michael, du schreibst «Hard Boiled»-Krimis im klassischen US-Stil, die aber hauptsächlich in Zürich spielen. Ist der harte Macker, in diesem Fall die harte Polizistin, in der Schweiz des Polizisten Wäckerli und des Wachmeister Studers glaubwürdig?

Klar, die Figuren sind ja nicht einfach hart und böse, sondern machen eine Entwicklung durch, die dem Leser glaubwürdig verständlich machen soll, wie auch hier Menschen verhärten können. Natürlich ist es überzeichnet, wie ja auch die harten Bullen in der US-Krimis nicht wirkliche Menschen sind.

Wenn die Lebensumstände in L. A. oder New York einen Polizisten korrupt und gewalttätig werden lassen, leuchtet das ein. Aber am Zürisee?

Wir müssen nicht lange zurückschauen, um eine kriminell einzigartige Situation in der Stadt zu finden. Im Sumpf der grossen Drogenszene in den Neunzigern, am Letten und am Platzspitz, waren die Voraussetzungen durchaus gegeben, um einen halbwegs anständigen Polizisten in Versuchung zu führen. Deshalb hab ich die Wurzeln meiner beiden Bösewichte in dieser Zeit angesiedelt.

Damals, vor allem am Letten, standen die Polizisten an vorderster Front in einem Krieg der Schweiz gegen die eigene Jugend. Überlastet und hilflos mussten sie zusehen, wie Dealer, die sie am Tag zuvor verhaftet hatten, bereits wieder Geld machten. Weil dem Suchtproblem mit repressiven Mitteln nicht beizukommen war, bestand eine Hauptaufgabe der Polizisten damals darin, den Handel zu stören, also Geld und Drogen aus dem Verkehr zu ziehen. Bunker mit packweise Heroin und bündelweise Geld zu finden und zu beschlagnahmen, kann schon eine Versuchung sein, etwas in die eigene Tasche zu stecken. Gerade wenn man von der Situation bereits frustriert und zynisch geworden ist.

Als Drogenbeauftragter der Stadt Zürich hattest du in den letzten sechzehn Jahren Einblick in die Mechanismen der Drogenkriminalität und der Polizeiarbeit in diesem Bereich. Sind deine Figuren der Realität entnommen?

Nein, meine Figuren sind frei erfunden. Um ihnen jedoch die Glaubwürdigkeit einzuhauchen, die sie benötigen, verwende ich die eine oder andere Geschichte, die ich während meiner Arbeit miterlebt oder gehört habe.

Die Stadtpolizisten in deinem Krimi werden am Letten/Platzspitz erst korrupt, danach wechseln sie die Seiten komplett und erscheinen in der Gegenwart als richtige Verbrecher. Machst du dir mit diesem Bild von der Stapo nicht Feinde unter den Leuten, mit denen du beruflich noch zusammenarbeiten musst?

Nein, ich denke nicht. Die Stadtpolizisten, von denen ich einige sehr gut kenne, können das einordnen. Sie sind die Ersten, die zugeben, dass die Situation in der offenen Drogenszene damals auch für Polizisten die Hölle war und dass der eine oder andere daran zerbrach und seine moralische Orientierung verlor. Aber genau deshalb ist heute auch die Situation bei der Stapo eine andere. Zum Beispiel gehört das Kennenlernen von Einrichtungen der Drogenhilfe wie z.B. der Fixerstübli zur Ausbildung bei der Stadtpolizei. Die Ideologien der 70er, 80er und 90er Jahre sind einem nützlichen Pragmatismus gewichen. Alle Beteiligten legen mehr Wert darauf, Probleme zu lösen, als sie niederzuschlagen. Man erwartet von den Polizisten, dass sie die Problematik verstehen, der sie täglich begegnen.

Ist die Situation denn nun wirklich besser? Erst gerade hatten wir den Fall «Chilli's», bei dem sich Polizisten von Milieu-Figuren bestechen liessen.

Ja, ich denke wirklich, dass die Situation besser geworden ist. Man siehts gerade am Fall «Chilli's». Die Verantwortlichen gingen so schnell und so hart gegen die eigenen Leute vor, wie es früher kaum der Fall gewesen wäre. Damals hätte man das wohl eher intern erledigt und den Ruf des Corps und die Kollegialität hätten Vorrang gehabt.

Hast du nicht genug Einsicht ins Elend in den letzten Jahren als Verantwortlicher für Drogenhilfe, Prostitution und die damit zusammenhängende Kriminalität, musst du auch noch in deiner Freizeit darüber schreiben?

Ich schreibe schon seit ich ein kleiner Junge bin. Schreiben ist, neben Musik (er spielt in der Punkband «The Goodbye Johnnys») die Leidenschaft in meinem Leben. Für mich ist es nur natürlich, dass ich die Fiktion in Aspekte meiner Realität einbette.

Aber es stimmt schon, meine Haut war früher dicker, die Realität, gerade in der Arbeit mit der Strassenprostitution, kann sehr zermürbend sein. Die Hoffnungslosigkeit und das Elend in diesem Milieu muss man ertragen können. Aber während ich mich dem in der Realität stellen muss, kann ich in den Büchern das Ende selbst vorgeben.

Zum Buch

Cover HerzigJohanna di Napoli versucht, ihr Leben in den Griff zu kriegen, mit ihrer ersten stabilen Beziehung seit langem zurechtzukommen, ihren Alkohol- und Tabakkonsum zu reduzieren und sich in ihrem Job als Revierdetektivin bei der Stadtpolizei Zürich nicht mit zu vielen Vorgesetzten gleichzeitig anzulegen. Dann wird sie für einen verdeckten Einsatz nach Deutschland geschickt. Ausgerechnet di Napoli soll einem im Rockermilieu ermittelnden Beamten als Rockerbraut zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen. Der Einsatz endet in einem Fiasko, und Johanna erkennt, dass die heiße Spur in dieser Ermittlung direkt zurück in die Schweiz und in eine unrühmliche Episode der Geschichte der Stadtpolizei Zürich führt. Erschienen im Grafit Verlag Dortmund.


Eltern gegen Lehrer

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Früher hatten Pädagogen eine andere Stellung.

Früher hatten Pädagogen eine andere Stellung.

An einem Nachtessen sprachen wir wieder mal über die Schule, über den Trend, uns Eltern mit Informationen einzudecken, jeden Tag ein Papier oder eine Mail: Die neue Pausenordnung, eine Schlägerei, ein Kratzer auf der Backe, das geht offenbar in allen Quartieren so, ob Seefeld, Unterstrass oder Wollishofen, bald wird jedes Schulhaus einen Kommunikationsberater brauchen.

Man weiss, dass die Pädagogen unter Druck geraten sind, weil die Eltern mitreden wollen. Und die Lehrer versuchen, sich bei ihnen abzusichern, ja keinen Fehler zu machen, man weiss ja nie. Das ist gut und schön, aber manchmal wäre ich froh, die Schule würde Verantwortung übernehmen und uns verschonen.

Einverstanden, niemand will zurück zum Klassenzimmer von einst, umgeben von einer Mauer des Schweigens wie bei der sizilianischen Mafia. Ich habe einmal zwei Jahre unterrichtet, als es im Kanton Zürich zu wenig Lehrer gab und hergelaufene Wirtschaftsstudenten im dritten Semester vor eine Klasse geschickt wurden. Ich sah aus wie ein Althippie, trotzdem hat mich ein italienischer Vater mit «Herr Direktor» angesprochen, Signor Direttore.

Heute werden jeden Frühling die Schulpflegen überschwemmt mit Gesuchen, weil den Eltern die ihren Kindern zugeteilten Lehrerpersonen nicht passen, es zirkulieren schwarze Listen mit den Namen von Horrorpädagogen. «Dabei hat jeder Lehrer seine Gegner und seine Fans», erzählte ein Vater, dessen Kind bei so einem unbeliebten Lehrer gelandet ist. Warten wir mal ab, hätten sie sich gesagt, eingreifen kann man immer. Er habe vor jedem, der sich vor eine Klasse hinstelle, erst mal Achtung, sagte der Vater, «der Job ist nicht einfach».

Doch die Öffentlichkeit schreit nach einem Lehrer-Ranking, die Schweiz sucht den Lehrer-Star. Klar gibt es neurotische, parteiische, ausgebrannte, aggressive und vor allem uninspirierte und langweilige Lehrer – die Frage ist, ob sie der Entwicklung der Kinder schaden. Etwas Gelassenheit würde wahrscheinlich guttun, es ist wie im Fussball, manchmal lernt man mehr unter miesen Bedingungen, wenn man sich auf dem Bolzplatz durchsetzen muss, das Leben ist nun mal kein Galadiner.

Aber zurück zu unserem Nachtessen. Meine Tischnachbarin erzählte, ihr Kind gehe in eine Privatschule, dort werde sie in Ruhe gelassen. Keine Mails, keine Formulare. Dabei würde man doch erwarten, dass die Eltern in einer Privatschule nonstop auf dem Laufenden gehalten würden, sie zahlen ja schliesslich. Das Gegenteil sei der Fall. Die Eltern zahlen, ja, weil sie das Konzept der Schule gut finden. Sie zahlen, damit die Schule Verantwortung übernimmt. Damit die Lehrer sagen, wo es langgeht. Sie zahlen dafür, dass die Lehrer den Mut haben, zu erziehen.

Die Volksschule dagegen muss sich dauernd rechtfertigen, weil alle mitreden wollen. Vielleicht, weil sie gratis ist? Oder steckt dahinter die Angst der Eltern, dass ihr Kind nicht genug gefördert wird in unserer harten Gesellschaft? Ist der Verteilungskampf in der Schule angelangt? Stoff genug für einige Nachtessen.

MiklosMiklós Gimes ist Reporter beim «Magazin», Kolumnist beim «Tages-Anzeiger» und Filmemacher («Bad Boy Kummer»). Jeden Donnerstag lesen Sie seine Stadtgeschichten hier bei uns im Stadtblog und auf der Bellevueseite in der Printausgabe.


China-Postpunk in Zürich

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«Zürich ist für uns so etwas wie das Tor zu Europa» Foto: Dieter Seeger

«Zürich ist für uns so etwas wie das Tor zu Europa» Foto: Dieter Seeger

Musiker Hua Dong tritt mit seiner Band Re-Tros heute Abend in Zürich auf. Ein Gespräch über Punk, sein Heimatland China, zerschnittene CDs und Bertolt Brecht.

Sie spielen mit Ihrer Band Re-Tros eine Art Punk, wie kommt die Rebellion in Ihrer Heimat China an?

Wir sind gezwungen, Umwege zu gehen. Die Regierung würde einen direkten Angriff nicht tolerieren. Das heisst, wir sagen nicht: «Der Staat ist schlecht», sondern erzählen eine Geschichte, die diesen Sachverhalt möglicherweise verdeutlicht. Kennen Sie Brechts Verfremdungseffekt? Wir wollen damit die Distanz zwischen Publikum und Künstlern erreichen. Das ist ein kraftvoller Effekt.

Reagieren die Behörden nie?

Die wissen wohl nicht einmal, dass es uns gibt. Wir sind zu klein. Wir sind nicht U2 oder was Ähnliches. Wir sind bloss eine etwas berühmtere Undergroundband, was bei der Grösse des chinesischen Marktes aber doch reicht, um davon zu leben. Doch wir singen ja auch Englisch, das verstehen wohl nicht alle Funktionäre. (lacht)

Wenn Sie also berühmter wären, gäbe es Probleme.

Könnte sein. Cuijuian etwa, der Musiker, der als Bob Dylan Chinas gilt, hatte immer viele Probleme mit der Polizei und durfte nicht auftreten. Gerade kürzlich wurde er ins Fernsehen eingeladen, in eine Sendung, die mehrere Millionen Menschen verfolgen. Vor der Show bekam er eine Liste mit den Liedern, die er spielen darf. Da hat er die Show kurzerhand gestrichen. Das war ein Skandal.

Wäre so ein Fall wie der von Pussy Riot auch in China denkbar?

Es gibt Grenzen, die man nicht überschreiten sollte. Etwa sollte man nicht über Sex und Gewalt singen. Wenn wir uns auf dem Tiananmen-Platz vor dem Mao-Denkmal staatskritisch äussern würden, würde es uns wohl ähnlich ergehen wie Pussy Riot. Oder wie Ai Wei-Wei, der genau deswegen im Gefängnis sass. Die Musiker in China haben sich oft diesen indirekten Stil angeeignet, die Methode des Storytellings.

Wie reagieren die Medien auf Sie?

Es ist alles sehr aufregend im Moment. Vor zehn Jahren noch war die Szene sehr überschaubar. In den letzten fünf Jahren ist die Subkultur explodiert. Alle sind gespannt, wie es weitergeht. Vor zehn Jahren gab es vor allem Heavy Metal und eine Subkultur mit vielen Punk- und Hardcore-Elementen. Mit geheimen Konzerten. Das war der Underground.

Sie zählen viele englische Bands wie Joy Division, Bauhaus oder Gang of Four zu Ihren Vorbildern. Waren diese Platten in China erhältlich?

Es war sehr schwierig, an solche Musik heranzukommen. Wir kauften Raubkopien oder sogenannte Cut-off-CDs. Das sind importierte CDs, die vom Zoll extra beschädigt werden. Trotzdem konnte man sich mehr als die Hälfte der Songs auf diesen CDs anhören. Der Markt für solche beschädigten CDs florierte, vor dem Internet hat es bei uns ja fast nur diese gegeben. Ein Freund von mir wurde durch das Geschäft mit Cut-off-CDs zum Millionär.

Wie sieht es derzeit in Sachen Popkultur aus in China?

Trotz Youtube-Verbot wächst die Popkultur seit der Ausdehnung des Internets immens. Die Jungen kommen leicht an westliche Popmusik heran. Auch existieren zahlreiche neue Festivals. Der Markt boomt. Wir spielen mit den Re-Tros diesen Sommer in einem Monat an acht Festivals. Mit dem Geld, das wir verdienen, leben wir danach ein halbes Jahr. Insgesamt gibt es in China rund 150 Musikfestivals pro Jahr. Auch sehr viele ausländische Bands spielen bei uns. Björk hat gerade kürzlich gespielt oder auch die Rolling Stones.

Gab es da nicht einen Skandal?

Genau. Mit Björk gab es Probleme, weil sie ein Lied über Tibet spielte, obwohl es nicht auf ihrer Setlist stand. Diese und die Songtexte musst du vor dem Konzert bei den Funktionären abliefern. Die Isländerin hatte sich nicht an ihre Setlist gehalten. Das ist zwar cool, doch hatten daraufhin vor allem die ansässigen Veranstalter darunter zu leiden. Ebenso die Künstler, die noch kommen: Es ist seither wieder schwieriger geworden, für ausländische Bands. Sogar Elton John bekam nun Probleme, er durfte bei seinem letzten Konzert nur zehn Lieder aufführen.

Sie waren vor zwei Jahren schon in Zürich. Wie erleben Sie die Stadt?

Unser Besuch in Zürich war der erste Aufenthalt für die Band in Europa überhaupt. Ich selber kenne ja den deutschen Sprachraum durch meinen Studienaufenthalt in Halle, wo ich Germanistik studiert habe. Für die Band aber ist Zürich jetzt so was wie das Tor zu Europa. Ich habe mich sehr schnell wohlgefühlt hier. Und klar: Es ist alles sehr entspannt hier und gut organisiert. Sie sollten mal Peking sehen . . .

Ist das Leben in Peking so unterschiedlich?

Nun, wir gehen ebenfalls in Bars und Clubs. Die Stadt ist, was das kulturelle Angebot angeht, sehr westlich geworden in letzter Zeit. Es gibt immer mehr Musikclubs und Bars. Und das nicht nur in Peking, sondern auch in den Provinzstädten. Vor fünf Jahren noch gab es vielleicht zwei, drei tolle Orte für Konzerte in der Stadt. Heute sind es beinahe 20. Tendenz steigend. Die Regierung beginnt sich dafür zu interessieren, weil sie damit Geld verdienen kann oder zumindest den Standortvorteil eines attraktiven kulturellen Lebens erkennt.

Ihre Musik klingt sehr europäisch . . .

. . . vielen Dank!

Benutzen Sie auch traditionelle chinesische Elemente, oder orientieren Sie sich ausschliesslich an westlicher Popmusik?

Die traditionelle chinesische Musik hat keine Bedeutung für uns. Ich hörte immer bloss Musik aus dem Westen. Wir machen mit den Re-Tros halt einfach, was uns echt berührt. Also all die Experimente, die damals im Zuge des Punks vonstattengingen. Punk ist in China jetzt vorbei, wie in England vor 30 Jahren. Nun sind wir beim Postpunk angelangt. Wie Sie sehen, alles ist etwas zeitverzögert. (lacht)

Die Musik der Re-Tros ist sehr kraftvoll. Was ist das Wichtigste für Sie beim Musikmachen?

Franz Kafka hat gesagt: «Ein Buch muss sein wie eine Axt, um das Eis der Seele zu spalten.» Dasselbe gilt für mich für die Musik. Ich will Musik machen, welche die Leute aufwühlt.

Hua Dong spielt mit seiner Band am China-Drifting-Festival.

Glanz & Gloria muss draussen bleiben

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Der neue Partymoderator von SRF darf nicht in die geilen Clubs.

Der neue Partymoderator von SRF darf nicht in die geilen Clubs.

Seit diesem Monat dreht das Schweizer Fernsehen seine neue Reihe «glanz & gloria feiert mit», die ab August und im Rahmen der Sendung «glanz & gloria weekend» ausgestrahlt wird. Durch die Sendung führt Salar Patrick Bahrampoori, der durch seine frühere Tätigkeit für den Schweizer Musiksender Viva und als Moderator für das Tele Züri-Partyformat freakish.tv (seit 2010) einschlägige Erfahrungen sammeln konnte.

Nicht nur was seine Bildschirmaktivitäten betrifft ist Bahrampoori kein unbeschriebenes Blatt: Bereits Ende der 90er Jahre stand er regelmässig an den Turntables von unterschiedlichen Clubs wie dem Oxa, dem Aera oder dem Zoo und auch an den legendären Partys der Blushin Pink-Veranstalter um Oliver Nater hat er Platten gespielt. Salar ist seit vielen Jahren ein beliebtes Mitglied der Zürcher Szene. Dass die glanz & gloria-Redaktion ihn nicht in Kombination mit dem Versprechen vorstellt, man würde von den „coolsten Szenepartys“ berichten, sondern interessierte Veranstalter bittet, ihn an deren Partys einzuladen, ist dennoch ein weiser Entschluss, denn auch Bahrampoori wird der Zutritt zu vielen Clubs verwehrt bleiben.

Ungeachtet dessen, dass er in der Szene über ungleich mehr Glaubwürdigkeit und Sympathien verfügt als beispielsweise sein Kollege Pät Schreiber von der Sendung PartyBreak auf Star TV. Schreiber kämpft sich mit bewundernswertem Eifer und unzerstörbarem Frohsinn durch Anlässe wie das Club Goggeien-Opening Flumserberg (SG) oder das Guggenfestival in Hägglingen (AG) und berichtet aus Clubs wie dem unverwüstlichen Top10 in Singen (D) oder dem Schlagertempel in Kirchberg (BE). Schreiber besucht all diese Glanzlichter der Ausgehkultur wohl eher aus Mangel an Alternativen denn aus Begeisterung. Aber auch Bahrampooori wird es nicht möglich sein aus der Zukunft, dem Gonzo, dem Kauz, dem Café Gold, dem Hive, der Friedas Büxe, dem Revier, dem Bellevue oder dem Stairs zu berichten.

Dies ist nur eine unvollständige Liste der Zürcher Clubs mit einem Kameraverbot, das nicht nur jene des Fernsehens umfasst, sondern auch die Geräte von Plattformen wie usgang.ch und tilllate.com. Diese ablehnende Haltung der Entscheidungsträger eines grossen Teils der Clublandschaft verunmöglicht den Aufbau einer Partyformates das tatsächlich alle Facetten des Nachtlebens spiegelt. Derweil sich tilllate.com und usgang.ch längst damit arrangiert haben, dürfte Bahrampoori beim Aufbau seiner Sendung mit diesen Hindernissen ziemlich zu kämpfen haben, betreffen sie doch just jenen Teil des Clubbings, dem er als Privatmann angehört.

Dennoch liegen die betreffenden Clubmacher wohl richtig, wenn sie sagen, dass ihre Gäste nicht eben erfreut reagieren, wenn man ihnen ein Objektiv vors Gesicht hält: Anlässlich eines Events des Zukkihund-Erfinders Rafi Hazera in der Zukunft, haben sich die dortigen Clubchefs dazu durchgerungen eine Ausnahme zu gestatten und einen tilllate.com-Fotografen zugelassen. Innert einer halben Stunde haben sich beim Zukunft-Mitbesitzer Markus Ott zehn Leute beschwert, dass sie auf höchst infame Weise abgelichtet worden seien. Sie taten dies in einem Tonfall, der vermuten lässt, sie würden fürchten, es würde ihnen die Seele geraubt, wenn man sie fotografiert.  

Alex FlachAlex Flach ist Kolumnist beim Tages Anzeiger und Club-Promoter. Er arbeitet unter Anderem für die Clubs Supermarket, Hive und Zukunft.

Gemachte Brüste

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Echt oder nicht? Fremde Brüste verändern meine Realität.

Echt oder nicht? Fremde Brüste verändern meine Realität.

«Ich lass mir die Brüste in Prag machen, da hat Anni ihre auch machen lassen», höre ich eine junge Frau neben mir im Tram in ihr Smartphone schreien. Schreien muss sie, weils im Tram voll und lärmig ist. Unauffällig (denke ich wenigstens) schiele ich auf ihr T-Shirt und kann keinen Makel an den vorhandenen (und von ihr offensichtlich als ungenügend taxierten) Exemplaren feststellen.

Man würde jetzt davon ausgehen, dass diese attraktive, ca. 20-jährige Frau irgendwo im 2er-Tram im Seefeld sitzt, eine Cartier-Uhr und Fellkragenjäckchen trägt und auf dem Weg zu ihrem parkierten SUV ist, um damit an die Goldküste zu ihrem 20 Jahre älteren Lebenspartner zu fahren. Soweit die Klischees. Aber wir sind im 8er am Helvetiaplatz und die junge Dame trägt Hipsterklamotten – inklusive Dutt und Hornbrille – und sieht eher so aus, als wäre sie auf dem Weg ins Atelier, wo ihr Rennvelo steht.

Nun, ich erinnere mich vage letztens gelesen zu haben, dass die Schweizer Weltmeister in Sachen Schönheitsoperationen sind. Und irgendwo müssen ja diese Leute sein. Natürlich sieht man nicht alle Schönheitsoperationen auf den ersten Blick, gerade wenns zum Beispiel Fettabsaugungen sind. Aber, wie jeder Mann, denke ich, dass ich gemachte Brüste erkennen würde, wenn sie mir über den Weg liefen. Nur, da es wohl so einige sind, die sich optisch optimieren lassen, kann man sich auch nicht mehr auf gängige soziale Klischees verlassen.

Bei 55 000 Schönheits-OPs jährlich müssten doch mehr Leute mit mir im Tram fahren, die an sich herumschneiden liessen. Ok, wenn Botox auch unter «Schönheits-OP» geht, dann kenn ich vielleicht doch ein paar, die ihre Falten mit der Giftspritze hinrichten liessen. Und bei dieser Zahl sind sicher nicht nur die üblichen Verdächtigen (mit Gucci-Täschchen, Herr Rittermann) darunter. Hab ich doch auch gelesen, dass Haartransplantationen im Kommen sind. Sogar Hipsterbärte lassen sich Männer ins Gesicht pflanzen. Schönheits-OPs sind also im Mainstream angekommen und prägen – oft wohl, ohne dass wir es merken – unser Stadtbild mit.

Bei Nomi Fernandes sind Lippen, Nase, Wangenknochen Brüste und vieles mehr gemacht. Und sie trägt farbige Kontaklinsen. Bild: R. El Arbi

Bei Nomi Fernandes sind Lippen, Nase, Wangenknochen Brüste und vieles mehr gemacht. Und sie trägt farbige Kontaklinsen. Bild: R. El Arbi

Seit diese junge Frau neben mir im Tram sass und mutig wie lauthals verkündete, ihre Brüste «machen» zu lassen, komm ich nicht mehr davon los. Ich schiele misstrauisch in Dekolletés, mustere Hüften, die mir zu schlank vorkommen und untersuche Nasenspitzen auf  künstlerischen Eingriff. Ist dieser Kussmund echt? Ist das da nicht das Kinn von Kirk Douglas? Sitzt dieses Gesicht nicht ein wenig zu gestrafft auf dem Schädel?

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin ein Verfechter von körperlicher Selbstbestimmung bei Frau und Mann. Tätowierungen, Piercings, Schönheitsoperationen, alles kein Problem. Ich hadere nur ein wenig damit, dass Leute, die sich selbst chirurgisch aufbessern, nicht nur ihre Realität verändern, sondern auch mein Bild der Welt beeinflussen. Es ist ein wenig so, als ob man im Kunsthaus war und danach gesagt bekommt, dass zwei der tausend Kunstwerke eigentlich Fälschungen seien. Man kommt nicht davon los, im Geiste die Werke durchzugehen und sich zu fragen, welche wohl «nicht echt» waren.

«Ein Furz in der Landschaft»

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Zürich ist so selbstbewusst, dass es keine Botschafter braucht.

Zürich ist so selbstbewusst, dass es keine Botschafter braucht.

«Die Berner», sagt mein Freund Sacha, «haben diesen defensiven Zug, fast ihr Markenzeichen, die gespielte Bescheidenheit, stilles Leiden als Kult.» Wir schauen auf dem Internet eine Szene mit Pedro Lenz und dem in Bern stadtbekannten Journalisten Alex Sury vom «Bund», sie reden über Gott und die Welt, werfen sich die Bälle zu, «ich bin auch auf den alten Wankdorf gegangen, als 3000 Zuschauer kamen», sagt Pedro Lenz, er werde doch nicht den Club wechseln, nur weil YB gerade schlecht spiele.

«Dieser Dialekt», sagt Sacha, «hörst du? Pass auf, jetzt erzählt er gleich, wie er als junger Giel an den Mätsch gegangen ist, an der Hand seines Onkels. Nichts dagegen, aber dieses seltsame Beharren auf Wörtern aus einer anderen Zeit, als wir alle noch glücklich waren, als das alte Wankdorf noch stand, als es noch keinen Dichtestress gab: So schaffen sie ihre Mythen. Ich frage mich», sagt Sacha, «ob wir das auch haben in Zürich, solche Mythen.»

«Sicher», sage ich, «das mit dem Wankdorf zum Beispiel erinnert mich an den Kult mit dem alten Hallenstadion, als man auf den oberen Rängen noch kiffte, und jetzt ist eine Eventbude daraus geworden, mit Drehorgel und Pausenclowns.»

«Ja, aber die Berner», sagt mein Freund Sacha, und ich pflichte ihm bei, «haben eine Vorstellung davon, wie sie wahrgenommen werden wollen. Ein bisschen Underdog, bescheiden, etwas nonkonformistisch, treu zu sich selber, und ihre Botschafter wirken irgendwie alle so, Kuno Lauener, Endo Anaconda, Pedro Lenz, Steffe La Cheffe, sogar ihre Secondos, der Müslüm.» Er macht eine Pause. «Ich frage mich, ob wir das überhaupt haben, Zürcher Botschafter, wer könnte das sein? Dieter Meier?»

«Oder Beat Schlatter?», sage ich, «Patrick Frey?» Wir werfen die Namen hin und her, von Roger Schawinski bis Vujo Gavric, aber während wir reden, wird uns bewusst, dass es das tatsächlich nicht gibt, einen ausgeprägten Zürcher Patriotismus. «Wenn die Leute sagen, dass sie sich in Zürich wohlfühlen, meinen sie ein Quartier, eine Siedlung, eine Szene», erklärt Sacha, «ihren Stamm.»

«In meiner Jugend gab es einen Barpianisten», erzähle ich Sacha, «der in seinen langen, verrauchten Nächten im Niederdorf und an der Langstrasse den Leuten gut zugehört hat – alle paar Jahre gab er ein Wörterbuch heraus, mit dem neusten Zürcher Slang.» Der Mann hiess Fritz Herdi, seine Sprachsammlung nannte sich «Limmatspritzer», das Buch war die Bibel der Stadt, und Fritz Herdi war ihr Apostel.

Vor ein paar Wochen ist er gestorben, er wurde über 90 Jahre alt. Kaum ein Medium hat sich an ihn erinnert. «Zürich hat es nicht mehr nötig, sich gegenüber dem Rest der Schweiz zu definieren», sage ich, «Zürich schaut ins Ausland.»

Am nächsten Tag warte ich auf die S-Bahn, ich höre einem jungen Deutschen und seiner Schweizer Kollegin zu, sie fahren zum Flughafen. Er könne nicht begreifen, sagt der Deutsche, warum so viele Flugzeuge in Kloten landeten. «Die Stadt ist zu klein für einen Flughafen dieser Grösse», sagt er mit Nachdruck, «viel zu klein. Ein Furz auf der Landkarte.

MiklosMiklós Gimes ist Reporter beim «Magazin», Kolumnist beim «Tages-Anzeiger» und Filmemacher («Bad Boy Kummer»). Jeden Donnerstag lesen Sie seine Stadtgeschichten hier bei uns im Stadtblog und auf der Bellevueseite in der Printausgabe.

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